Übersozialisierung beim Welpen als Ursache für spätere Probleme
Aufregung, Nervosität und schlechte Trainierbarkeit: Wenn ein Übermaß an Sozialisierung viele Probleme erst schafft!
Ein Welpe muss sozialisiert werden. Das bedeutet, er soll an die sogenannte „belebte Umwelt“ wie andere Menschen, Tiere und Artgenossen gewöhnt und angstfrei herangeführt werden.
Das Ziel: Der Welpe soll zu einem sozialverträglichen erwachsenen Hund heranwachsen, ein gefestigtes Wesen entwickeln und sich sicher in seiner Umwelt bewegen.
Dabei soll eine angemessene Sozialisierung vor allem dafür sorgen, dass ein Hund später wenig bis keine Probleme im Umgang mit Menschen, Artgenossen oder anderen Tieren hat und sich nicht unangepasst aggressiv oder sogar angst-aggressiv verhält.
Eine gute Sozialisierung soll also prophylaktisch sowohl dem Welpen in seiner weiteren Entwicklung nutzen als auch andere vor Gefahren schützen, die von einem nicht oder nicht ausreichend sozialisierten Hund ausgehen können.
Das Problem: Viel ist nicht gleich gut und gut gemeint nicht immer gut gemacht!
In vielen Hundebüchern oder Hundeforen liest man, der Welpe müsse an so viele neue Reize wie möglich gewöhnt werden. Damit er nachher keine Probleme entwickelt.
Das stimmt jedoch nur bedingt.
Die Sozialisierungsphase ist bei Hunden zeitlich begrenzt. Sie geht von der 4. Lebenswoche, beginnend beim Züchter, nur etwa bis zur 16. bis max. 18. Lebenswoche (rasseabhängig).
Das verführt natürlich dazu, den Welpen nach seiner Ankunft mit 8 bis 10 Wochen sehr schnell und häufig in alle möglichen Kontakt-Situationen zu bringen, weil man man ihn schließlich in der Kürze der Zeit so umfassend und gut wie möglich sozialisieren will.
Die Crux an der Sache: Die Dosis macht das Gift – und zwar zu zwei Seiten!
Machst Du zu wenig, kann Dein Hund Probleme entwickeln. Machst Du zu viel, entstehen oft ebenso lebenslange Schwierigkeiten. Inklusive Aggressionsverhalten – und zwar gar nicht so selten!
Übersozialisierung als Grund für ganz viele spätere Verhaltensprobleme
Ein nicht unerheblicher Teil der Hunde, die ich in meinem Job als Hundetrainerin treffe, sind nicht zu wenig sozialisiert. Sie wurden als Welpen schlicht übersozialisiert.
Das zeigt sich häufig darin, dass die genannten Hunde sich kaum bis gar nicht mehr konzentrieren können, sobald andere Menschen oder Artgenossen in Sichtweite kommen, jedem „guten Tag“ sagen wollen, ungehemmt anspringen oder nachher völlig gefrustet sind, wenn sie nicht sofort überall (und zu ihren Bedingungen) Kontakt aufnehmen dürfen.
Das geht oft einher mit Leinengezerre, manchmal sogar aggressivem Verhalten oder Gejaule, Bellen und dem Unvermögen, sich auch nur eine einzige Sekunde ruhig zu verhalten, sobald sich aus ihrer Sicht ein spannender Reiz anbietet.
Das kann sich gerade im städtischen Umfeld zu einem echten Problem auswachsen – wenn Du im Zweifel nämlich gar nicht mehr in Ruhe das Haus verlassen kannst, weil sich Dein Hund von jedem anderen vorbeikommenden Zwei- oder Viebeiner zur Kontaktaufnahme animiert fühlt.
Gut trainierbar sind diese Hunde dann oft für ihre Halter nicht mehr; denn der Vierbeiner ist in stetiger Erwartungshaltung auf äußere Reize und nicht mehr in der Lage, sich auf seinen Besitzer zu konzentrieren.
Übersozialisierung ist ein großes Thema, auf das ich hier bei uns im städtischen Bereich mindestens genauso häufig treffe wie auf den zu wenig sozialisierten Hund.
Wie kommt es zur „Übersozialisierung?
Eine Übersozialisierung entsteht klassicherweise durch 4 Punkte:
- Zu früh zu viele Reize: Wenn Dein Welpe bei Dir ankommt, hat er erst einmal ein viel wichtigeres Bedürfnis als zusätzliche Reize. Er muss Dich kennenlernen, seine neue Umgebung und vor allem lernen dürfen, dass Du sein Fels in der Brandung und sein sicherer Hafen bist. Du kannst ihn nur entspannt an neue Situationen gewöhnen, wenn er zunächst eine gute Bindung und Beziehung zu Dir eingehen konnte. Das geht nicht innerhalb von ein paar Tagen und er braucht erst einmal Zeit mit Dir und Deiner Familie allein – ohne Nachbarn, die ganze Verwandtschaft und Hundebesuch von Freunden.
- „Sozialisierung“, wo keine Sozialisierung nötig ist: Du bekommst einen Welpen, der schon super aufgeschlossen mit Menschen und/oder anderen Hunden ist. Ein Welpe, der mit seinem Einzug bei Dir schon zeigt, dass er immer und ständig Kontakt zu fremden Menschen oder Hunden aufnehmen will, den musst Du nicht mehr sozialisieren. Den wirst Du an dieser Stelle stattdessen oft schon bremsen und ihm vermitteln müssen, dass er nicht freiverwaltet überall hinlaufen darf und soll.
- Typische Rasseeigenschaften: Hast Du Dich für eine Rasse entschieden, die für ihre Extrovertierheit und Kontaktbereitschaft bekannt ist (z.B. Labrador, Golden Retriever, z.T. auch französische Bulldoggen) und sich Dein Welpe schon sehr schnell sehr aufgeschlossen und aufgeregt gegenüber anderen Menschen oder Artgenossen zeigt, solltest Du das auch nicht durch zahllose weitere Kontakte fördern. Du triggerst in diesem Fall lediglich genetisch ohnehin schon vorhandene Eigenschaften und sorgst dafür, dass Du sie nachher nicht mehr kontrollieren kannst.
- Gelernte Aufregung: Verbindet Dein Welpe andere Menschen oder Artgenossen mit regelmäßiger und übermäßiger Aufregung, dann lernt sein Gehirn auch genau das. Und diese Verknüpfung lernt sein Gehirn dann dummerweise ebenso auch und gerade in der sensiblen Phase der Sozialisierung. Das heißt: Es ist genauso schwierig, einem „übersozialisierten“ Hund die Aufgeregtheit wieder abzutrainieren wie einen ängstlichen und zu wenig sozialiertem Hund Ängste oder Unsicherheiten zu nehmen. Da wird – trotz besten Trainings – später i.d.R. immer etwas zurück bleiben.
Stadt versus Land
Es ist ein Unterschied, ob Du in der Stadt oder auf dem Land lebst.
Wohnst Du mitten in der Großstadt wie bei uns in Bremen, dann geht es bei den meisten Welpen nicht darum, ihnen ständig neue Kontakte zuzuführen:
Du triffst, sobald Du das Haus verlässt, sowieso alle paar Minuten auf Passanten, die Deinen Welpen ansprechen und begrüßen wollen. Du triffst auch permanent auf andere Hunde.
Es wäre also Quatsch, Deinen Welpen all diese Kontaktmöglichkeiten wahrnehmen zu lassen, wenn Du später einigermaßen entspannt mit Deinem Hund unterwegs sein willst. Ausgewählte Kontakte sind völlig in Ordnung, eine Masse an Kontakten an jeder Straßenecke können sich jedoch später als problematisch herausstellen.
Lebst Du eher abgeschieden auf dem Land, macht es sicher eher Sinn, Deinem Hund gezielt und ausgewählt Menschen- und Hundekontakte zu ermöglichen.
Es ist ein Unterschied, ob Du drei Mal in der Woche auf einen anderen Hund triffst oder bei jedem einzelnen Gassigang auf zehn bis zwanzig.
Standing beweisen
In der Stadt wirst Du Dich ernsthaft darin beweisen müssen, die meisten Kontakte abzuweisen.
Das fängt bei jedem Passanten an, der Deinen Welpen anspricht und anfassen will bis hin zu Hundehaltern, die für „ihren“ Hund ständig Kontakt zu Deinem suchen.
Letzteres in der Regel mit dem Argument, dass auch Du Deinen Welpen ja sozialisieren musst…
Guck Dir diese Leute sehr genau an – es sind meist die, die den in diesem Artikel beschriebenen „übersozialisierten Hund“ haben.
Übersozialisiert heißt nicht gut sozialisiert
Ein übersozialisierter Hund ist mitnichten gut sozialisiert. Er kann sich genauso wenig wie ein zu wenig sozialisierter Hund angepasst verhalten.
Ein übersozialisierter Hund steckt so voller eigener (aktiver) Erwartungshaltungen, dass er sich an das Gegenüber nicht mehr anpassen und dessen Kommunikation in seine Annäherung mit einfließen lassen kann. Er beachtet die Signale des anderen oft einfach nicht mehr.
Es ist also nicht besser, wenn ein Hund völlig hysterisch alle Menschen vor Freude umschmeißt oder Artgenossen ohne Rücksicht auf Verluste über den Haufen rennt, als wenn ein Hund eine unbedachte und unwillkürliche Bewegung eines Menschen als angsteinflößend oder sogar als Bedrohung einstuft.
Auch ein übersozialisierter Hund zeigt übrigens ziemlich häufig Aggressionsverhalten, mit dem sein Halter zu kämpfen hat:
Frust, weil der Hund nicht sofort jedem Impuls nachgeben darf, führt häufig zur klassischen Leinenaggression oder zum aggressiven Ablassen von Fustration an Artgenossen, sobald der eigene Hund dann doch in Kontakte entlassen wird.
Den Problemen, die eine Übersozialisierung mit sich bringt, kannst Du aber als Hundehalter viel eher entgegen steuern.
Übersozialisierung ist eine Form von Sensitivierung
Sensitivierung bedeutet, dass Dein Hund auf kleinste Reize anspringt. Sensitivierung kann durchaus rassegenetisch bedingt sein, wird aber in der Regel im weiteren durch Umwelt- und Lernfaktoren weiter beeinflusst und gesteigert.
Du solltest also sehr klar beobachten und reflektieren, welche Reize Deinem Welpen gut tun und welche nicht. Was ihm nicht gut tut, wird er sich nämlich genauso abspeichern.
Sensitivierung als Problem bei unsicheren Hundetypen
Hast Du einen Welpen, der von seiner Persönlichkeitsstruktur schon eher zur Unsicherheit neigt oder einen, der im Sozialisierungsprozess noch Nachhilfe benötigt, musst Du wirklich vorsichtig vorgehen.
Auch solche Hundewelpen profitieren keinesfalls davon, dass sie so schnell wie möglich so viel wie möglich kennenlernen müssen.
Das wird stattdessen eher dazu führen, dass Du sie auf angstmachende Reize „übersensibilisierst“:
Lass also zunächst den Welpen ankommen, Dich kennenlernen und dann führ in Schritt für Schritt an das heran, was in eurem Alltag wichtig ist.
Es muss kein Welpe in den Zoo, um mal einen Elefanten gesehen zu haben. Es muss kein Welpe Straßenbahn fahren, wenn Du das sowieso nicht tust. Es muss kein ängstlicher Welpe das hündische „Hau-drauf-Pendant“ kennenlernen, um Selbstvertrauen zu lernen. Vermutlich wird er dadurch eher traumatisiert. Zumindest kannst Du kaum voraussagen, wie das Ergebnis bei Deinem Hund sein wird.
Gut Ding will Weile haben: Beziehungen müssen wachsen
Hat Dein Hund mit Dir gelernt, dass er sich ernsthaft auf Dich verlassen kann, ist es im Zweifel egal, ob er seine erste Busfahrt mit Dir erst ein Jahr später macht oder wann Du ihn mit in den Zoo, auf die Fähre oder sonst wohin mitnimmst.
Das hat am Ende nicht unbedingt etwas mit „Sozialisierung“ zu tun, sondern damit, ob Dir Dein Hund vertraut.
Ich bin mit all meinen ängstlichen Tierschutzhunden, die nichts kannten, irgendwann einfach Bus, Bahn und Fähre gefahren. Weil es für sie selbstverständlich war, dass man hingehen kann, wo ich hingehe.
Ich habe das nicht geübt. Ich habe ihnen nur die Zeit gelassen, mich kennenzulernen und zu verstehen, dass meine Entscheidungen in Ordnung sind – und ich zu ihren Gunsten regeln werde, wo sie meine Unterstützung benötigen.
Sozialisierung und Vertrauensbasis
Soziaslisierung sollte also nicht allein bedeuten, dass Du Deinen Welpen an so viele Reize wie möglich heranführst.
Sozialisierung sollte vor allem beinhalten, dass Dein Welpe Dir zu vertrauen lernt:
Du kannst ihn nämlich gar nicht entspannt an alle relevanten Reize in den wenigen Wochen heranführen, die euch im späteren Leben begegnen werden.
Sozialisierung heißt deshalb an erster Stelle, dass Dein Welpe Dich als handlungsfähigen und verlässlichen Sozialpartner kennenlernt und Du ihm dann relevanten Dinge für euren Alltag zeigst.
Das gilt auch für den überfreundlichen Hund, der sich – absehbar – später nicht mehr im Griff haben könnte: Es ist Deine erzieherische Entscheidung, das so früh wie möglich in lenkbare Bahnen zu leiten.
© Judith Borck – Hundeschule Bremen – Training für Mensch und Tier
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