Hektisch, rastlos, aufgewühlt…

Seit Jahren nimmt die Anzahl der nervösen, überdrehten und gestressten Hunde, die uns Hundetrainern vorgestellt werden, erschreckend zu. Das sind Hunde, die einem normalen Alltag kaum noch gewachsen sind.

Viele Hunde können ganz banale Dinge nicht mehr leisten

Zum Beispiel ruhig im Café unter dem Tisch zu liegen, ein paar Stunden gechillt alleine Zuhause zu bleiben, gelassen an Passanten, Joggern und Radfahrern vorbei zu gehen und nicht hysterisch kreischend jeden Artgenossen an der Leine zu kommentieren.

Ich finde es inzwischen tatsächlich schwierig, diesen ganzen völlig überforderten Hunden beim „Leben“ zuzuschauen. Oder bei dem, was ihr tägliches Leben ausmacht.

  • Wie sie keine Sekunde still sitzen können
  • Wie sie ihr Gehirn nicht den Bruchteil einer Sekunde auf einen festen Reiz fokussieren können. Weil hören, sehen, riechen – alles gleich WICHTIG, WICHTIG, WICHTIG ist!
  • Hunde zu erleben, die so reizüberflutet sind, dass sie nicht mehr zur Ruhe kommen.
  • Hunde, die verzweifelt versuchen, die Kontrolle zu behalten – und sie doch längst verloren haben.

Fehlendes hierarchisches Bewertungssystem von Reizen als Ursprung von Verhaltensauffälligkeiten

Das Thema der „durchgenallten“ Hunden ist tatsächlich ein ganz akutes Problem in unserer Gesellschaft geworden. Es werden immer mehr dieser „problematischen“ Hunde, die in den Hundeschulen auftauchen. Immer mehr Hunde, die permanent auf 180 sind. Immer mehr Hunde, die nervös oder hyperaktiv sind, angeblich unerziehbar oder launenhaft und aggressiv.

Dieser ungute Werdegang beginnt für viele Hunde leider schon als Welpe.

Was die meisten dieser Hunde in der Regel eint, ist die mangelnde Fähigkeit, Reize hierarchisch zu bewerten. Ganz simpel nach wichtig, nicht so wichtig, wenig wichtig und belanglos.
Es fehlt eine ganz klare und einleuchtende Struktur, mit dem Alltag und alltäglichen Begebenheiten umzugehen.

Ungefilterte Reize

Stell Dir vor, Du gehst raus auf die Straße und alle Eindrücke prasselten permanent & ungefiltert – mit der gleichen Wichtigkeit – auf Dich ein:

  • Jede Bewegung eines jedes Menschen, der an Dir vorbeigeht.
  • Jeder Schatten, der vorbeihuscht. Jedes Blatt, das flattert.
  • Und überhaupt – wie sehen die anderen Menschen eigentlich alle aus? Haben die einen Hut auf? Eine Mütze? Einen Regenschirm bei sich? Ist die Jacke grün oder rot? Nehmen die gerade die Hände aus der Tasche? Oder stecken sie sie rein? Schneuzen die sich? Stolpert da gerade jemand?
  • Jedes Geräusch: Jede bremsende Straßenbahn, jeder bremsendes Auto, das Signal von der Ampel, wenn sie auf „grün“ springt, die Klingel des Eiswagens, das Gekreische der Katzen, die sich einen Block weiter streiten, das Martinshorn von Krankenwagen, Feuerwehr oder Polizei.
  • Jeder Geruch, der vorbeizieht. Von der Dönerbude, von der Pizzeria, vom Bäcker bis hin zum gammeligen Müllberg neben der Parkbank und zur Deomarke des Sitznachbarn im Bus.

Eigentlich unvorstellbar, oder? Der absolute Super-GAU für unser Gehirn!

Reizbewertung zu vermitteln, ist ein Erziehungsauftrag

Weil unser Gehirn mit solch einem Super-Gau nicht gut umgehen kann, haben unsere Eltern uns von klein auf tatsächlich etwas ganz wichtiges beigebracht: NEIN.

NEIN, das ist jetzt nicht wichtig.
NEIN, das machst Du jetzt nicht.
NEIN, Du machst jetzt genau das, aber nicht das andere.
NEIN, Du musst auf die grüne Ampel warten – auch wenn der Eiswagen dann weg ist. Shit happens. Gibt’s das Eis vielleicht morgen. Jedenfalls nicht jetzt.

Was unsere Eltern mit ihrem simplen „NEIN“ getan haben, ist ein unglaubliches Geschenk für unsere Gehirnentwicklung. Nämlich wichtige von unwichtigen Reizen zu unterscheiden.
Damit wir nicht irre werden, damit wir Prioritäten setzen können, sinnvolle Entscheidungen treffen, überlegt handeln – und uns eben gerade nicht in völliger Reizüberflutung verlieren!

Action statt Reizbewertung

Für viele Hundehalter scheint dieses simple Prinzip aber leider noch nicht angekommen zu sein.
Da wird stundenlang am Problem vorbei bespaßt, Bälle geworfen, Suchspiele gemacht, Tricks geübt – alles im Sinne der Auslastung. Damit Waldi endlich aufhört, alle anderen Hunde anzuschreien, Menschen zu beißen, endlich mal Ruhe gibt, anstatt lautstark das Haus zusammen zu kläffen, wenn er mal 20 Minuten alleine bleiben muss.
Statt „nein“, Ruhe und Struktur gibt es noch mehr Reize. Alternative Reize. Noch mehr Hochpuschen, noch mehr Action.

Nur eins gibt es nicht: Pause. Zeit zum Nachdenken. Zeit, die Synapsen im Hirn sinnvoll – und mit VERSTAND – zu verbinden.

Einen überdrehten, reizüberfluteten Hund durch noch mehr Reize zur Ruhe zu bekommen, das funktioniert nicht. Es ändert nichts an seinem Problem.

Lasst dieses emotionale Chaos bei euren Hunden doch einfach von vornherein nicht zu. Es ist eure Aufgabe als Hundehalter, das Gehirn eures Vierbeiners zu ordnen. Nicht, ihn zu einem psychischen Wrack zu machen. Ein NEIN an der richtigen Stelle ist euer ganz persönlicher Beitrag zur seelischen Gesundheit eures Hundes.